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Die Genealogie als Hilfswissenschaft der Humangenetik

Dorothee Früh


  Einleitung    
I. Die Intentionen der Protagonisten  Teil 1  
     Teil 2  
  II. Institutionalisierung und Politisierung -
die Wissenschaftliche Genealogie in der Psychiatrischen Genetik
   
  III. Quantitative Genealogie    
    Abkürzungen  
    Bibliographie  



 III. Quantitative Genealogie

  Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches fand sich mit der medizinischen Genetik auch die Genealogie diskreditiert. In der Mitte des Jahrhunderts zogen sich daher die Genealogen auffällig aus der biologisch-genealogischen Forschung zurück. Der Historiker Friedrich von Klocke vertrat 1950 die Ansicht, dass die von Ottokar Lorenz eingeleitete Hinwendung zur naturwissenschaftlich orientierten Familienforschung der Entwicklung der Genealogie geschadet habe. Von Klocke empfahl seinen Kollegen daher intensives Nachdenken "über Verfehltes und Versäumtes". Im Vorwort zu seinen "Prolegomena zu einem Lehrbuch der Genealogie" schreibt dieser Universitätsprofessor: "Und das Versäumte und Verfehlte in der Genealogie ist tatsächlich sehr umfangreich. Dies gilt nicht zuletzt für das halbe Menschenalter zwischen 1930 und 1945. Was damals in der Sonderform der rassisch ausgerichteten Genealogie in gewissen Kreisen unter der Flagge einer doch weitgehend verkennenden und entstellenden naturwissenschaftlichen "Sippenkunde" auf Kosten einer ernsten historisch-soziologischen Genealogie geleistet wurde, bedeutet einen schweren Schaden für das Fach. Um die Beseitigung seiner letzten Reste sind aber verantwortungsbewußte Stellen und Persönlichkeiten gleicherweise bemüht wie Verlage und Zeitschriften." (Klocke 1950: 3.) Devrient, Kekule, Forst-Battaglia, Hager und anderen sei es weniger darum gegangen die Genealogie als eigenständige Wissenschaft weiterzuentwickeln als genealogische Methoden den Erfordernissen der Vererbungswissenschaften anzupassen. Kekule wurde von von Klocke vorgeworfen, daß er 1919 die Genealogie als eine "Hilfswissenschaft der Vererbungswissenschaft" beschrieben, ja, geradezu als "Teil der Vererbungslehre" bezeichnet habe. Auch Devrient habe 1911 in seinem populärwissenschaftlichen Büchlein Familienforschung "in der Tat sehr bedenkliche vererbungsmäßig ausgerichtete Darlegungen" gebracht (Klocke 1950: 14). So etwas dürfe sich nicht wiederholen.  
  Tatsächlich hat sich bei meinen Recherchen ergeben, dass nach 1945 nahezu ausschließlich Arbeiten auf dem Gebiet der "ernsten historisch-soziologischen Genealogie" (von Klocke) erschienen, und wenigstens in (West-) Deutschland lange Jahre keine naturwissenschaftlich orientierte Familienkunde mehr betrieben wurde. Man hat derzeit in Deutschland Probleme ein Buch über Genealogie zu finden, in dem Familienforschung als Mittel humanbiologischer Forschung dargestellt wird. [21]
In dem "Lehrbuch der genealogischen Methode" des Ethnologen Hans Fischer wird einleitend (auf S. 10) erwähnt, dass die Genealogische Methode bevor sie in der Ethnologie eine Anwendung fand, in der Physischen Anthropologie zum Nachweis der Erblichkeit körperlicher Merkmale eingesetzt worden sei. Als einzige deutschsprachige Arbeit führt Fischer in diesem Zusammenhang Crzellitzer 1909 (!) an (und dies wohl nur deshalb, weil die Arbeit des Augenarztes damals in einer Zeitschrift für Ethnologen erschien). In Fischers Bibliographie, die 300 Nachweise umfasst, finden sich nur sechs humanbiologisch-genealogische Studien, die sämtlich von angloamerikanischen Forschern durchgeführt wurden.
 

 

 

 

 

 

 

Offenbar ist die Zahl derjenigen Genealogen, die sich für humanbiologische Fragen interessieren, derzeit in Deutschland gering, aber unter den Vertretern der sogenannten Quantitativen Genealogie gibt es sie. Arndt Richter und Weert Meyer beispielsweise bedienen sich der Möglichkeiten der Computergenealogie um unter Umgehung des Problems der Erfassung lebender Personen anhand historischer Materialien alte genetisch-genealogische Fragen neu zu stellen, so etwa die nach der Abschätzung der Bedeutung des Ahnenverlustes bei Inzucht. In einer im vorigen Jahr erschienenen umfangreichen Studie mit dem Titel "Die Geisteskrankheit der bayerischen Könige Ludwig II. und Otto" überprüfen Richter und Meyer die These "von der besonderen Mittlerrolle x-chromosomaler Gene bei der Ausprägung geistiger Eigenschaften". Die beiden Genealogen finden, dass diese Annahme durch die hier errechneten Erbwahrscheinlichkeiten gestützt wird (Richter und Meyer 1997, besonders S. 129-134).
Bereits 1929 hatte der Anthropologe Walter Scheidt, der zu dieser Zeit eine Professur in Hamburg hatte, im ARGB geschrieben, dass nicht jede Verwandtenehe zu einer "Erbhäufung" für jeden Nachkommen aus dieser Verbindung führe. Mit anderen Worten, nicht jede Ehe zwischen Verwandten gleichen Grades ist auch biologisch gleichwertig. D. h. die bloße Angabe des Verwandtschaftsgrades wie sie bei der statistischen Erfassung von Verwandtenehen üblich ist, ist nicht aussagekräftig, wenn es um die Abschätzung der Anhäufung geschlechtsgebundener Erbanlagen geht (vgl. Scheidt 1929: 154-158). Daher ist es notwendig einen mathematischen Ausdruck für die Stärke des Ahneneinflusses zu finden. Ein Ahnenbezifferungssystem, wie es Kekule 1898 einführte, bildet die Grundlage hierfür. [22]
 
  In der - von dem Mineralogen Siegfried Rösch [23] von Beginn der 40er Jahre an entwickelten - Quantitativen Genealogie (vgl. Richter 1986: 67-78) werden dezimale Ahnennummern als Codes bei der Verwandtschafts- und Erbwahrscheinlichkeitsberechnung zwischen Proband und Ahn verwendet und erlauben die Berechnung von "Erbintensitäten bei Ahnenverlust" (Richter und Meyer 1996: 103). Für die Ahnentafelanalyse per Computer ist jedoch ein binärer Code für die einzelnen Ahnen vorteilhaft [24]. Die Anzahl der Stellen des Codes zeigt dann direkt die Zahl der Generationen und läßt damit die verwandtschaftliche Nähe zwischen Proband und Ahn erkennen. Die duale Ahnennummer erweist sich insbesondere als nützliche Grundlage für Berechnungen des x-chromosomalen Erbgangs: sie gibt nämlich - wie aus Abb. 2 zu ersehen ist - unmittelbar die jeweilige Abstammungslinie oder "Geschlechterkette" zwischen Proband und Vorfahr an (Richter und Meyer 1996: 103, 106).  
  Die Berücksichtigung von Ahnen weit zurückliegender Generationen wird von Populationsgenetikern häufig als überflüssig betrachtet, da nach der Mendelschen Theorie "der mittlere biologische Verwandtschaftsanteil in der 6. Generation nur noch 1/64" beträgt. Richter und Meyer (1997: 15) halten diesem Argument - das wie erwähnt bereits 1911 W. Weinberg in seiner Kritik des Lorenz'schen Lehrbuches verwendete - entgegen, dass dies aufgrund "teilweise sehr hoher Ahnenhäufigkeit bei Mehrfachverwandtschaft" nicht immer der Fall sei. Die Vertreter der Quantitativen Genealogie verweisen außerdem darauf, dass es bei X-chromosomalem Erbgang bereits innerhalb ein und derselben Generation abgestufte erbstatistische Unterschiede gebe. [25] Und da bekanntlich "der Vergleich die Seele der Statistik" sei, mache eine Methode mit Hilfe derer Erbwahrscheinlichkeiten untereinander verglichen werden könnten durchaus Sinn (Richter und Meyer 1997: 15).  
  Festzuhalten bleibt, dass "mit den erweiterten statistischen Methoden der Quantitativen Genealogie (...) genetische Erb-Wahrscheinlichkeits(!)-Werte für die wichtigsten Erbgänge (autosomal und x-chromosomal) zwischen zwei (...) Personen", die mutmaßlich Träger der gleichen Erbanlage waren, angegeben werden können (Richter und Meyer 1997: 145). Hierin ist diese Methode der biometrischen gleichzustellen. Freilich wird kein Genealoge bei der (auch bei Hinzuziehung aller bislang verfügbaren und potentiell noch irgendwann auffindbaren Quellen) unausweichlich stets dürftig und daher unbefriedigend unsicher bleibenden Datenlage unanzweifelbare Aussagen über die Erbanlagen einer Person machen können, die vor 400 oder 500 Jahren lebte. Ebensowenig läßt sich mit den Mitteln der Familienforschung "mit Bestimmtheit(!)" klären, ob "z. B. die Geisteskrankheit der bayrischen Könige mit den Herzögen Wilhelm d. J. v. Braunschweig-Lüneburg und/oder Wilhelm dem Reichen v. Jülich-Cleve-Berg in einem ursächlichen (genetischen) Zusammenhang steht." (Richter und Meyer 1997: 145.) "Erbgewißheiten", so Richter und Meyer (1997: 147), könnten nur mit molekulargenetischen Methoden erbracht werden. Es sei jedoch "in zahlreichen Fällen eine Zusammenarbeit dieser Methode (...) mit der Genealogie" unverzichtbar (ebd.: 147).  
 

 * * *
 
  Nach diesem Überblick über genetisch - genealogische Studien aus 100 Jahren muss die Frage offenbleiben, ob oder weshalb das menschliche Individuum in seiner Stellung in der Geschlechterfolge heutzutage nur noch selten Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung ist. Ottokar Lorenz (1898: 26) schrieb vor 100 Jahren, dass der "geschichtliche Mensch (...) nicht von dem natürlichen getrennt werden" könne. Ich möchte diese Aussage bestätigen, indem ich sie gerade andersherum formuliere: Eine im Wortsinn integrative Forschung sollte den biologischen Menschen nicht gänzlich vom historischen getrennt betrachten. Ein Mensch ist weder bloßes Vehikel von DNA-Abschnitten, noch ist er als handelnde Person unabhängig von seiner biologischen Konstitution und daher unter diesen beiden Aspekten und im jeweiligen sozialhistorischen Zusammenhang zu sehen.  

 

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II. Institutionalisierung und Politisierung

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Fußnoten

[21] Sucht man unter dem Stichwort "Familienforschung" nach, findet man, dass hierunter heutzutage etwas anderes, zum Bereich der Soziologie Gehöriges verstanden wird. Vgl. z.B. [Interdisziplinäre Familienforschung] 1991.  zurück 
[22] Der Proband erhält die Ziffer 1, dessen Vater die Ziffer 2, dessen Mutter eine 3, der Vater des Vaters eine 4, die Mutter des Vaters eine 5, der Vater der Mutter eine 6 und die Mutter der Mutter eine 7 usw. D. h. Frauen werden stets mit ungeraden, Männer stets mit geraden Ziffern bezeichnet. Vgl. Richter und Meyer 1996: 103.   zurück
[23] Zu Biographie und Werk Röschs vgl. [Siegfried Rösch] 1986 und Rösch 1961.
Rösch führte die Bezeichnung "mittlerer biologischer Verwandtschaftsanteil b zweier Individuen" ein, der in etwa dem von Sewall Wright angegebenen Inzuchtkoeffizienten f entspricht und für genealogische Zwecke hinreichend genaue Werte liefert (Richter und Meyer 1997: 17f). 
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[24] Hier erhält der Proband ebenfalls unabhängig von seinem Geschlecht die Ziffer 1. Bei jedem männlichen Vorfahren ist die letzte Stelle der dualen Ahnennummer eine 0, bei jedem weiblichen Ahn eine 1. So ist beispielsweise der Vater des Probanden in der binären Ahnentafel (siehe Abb. 2) durch die Ziffer 10, der Großvater mütterlicherseits durch die Ziffer 110 bezeichnet (Richter und Meyer 1996).  zurück 
[25] "Die abgestuften Erbwahrscheinlichkeitswerte bx kommen dadurch zustande, dass sich aus vier Eltern - Kind - Beziehungen [1. Vater - Sohn, 2. Vater - Tochter, 3. Mutter - Sohn und 4. Mutter - Tochter] drei unterschiedliche Vererbungsweisen für x-chromosomale Gene ergeben". Vom Vater auf den Sohn können keine x-chromosomalen Gene übertragen werden, jedoch in jedem Fall vom Vater auf die Tochter. "Allein aus der Kombination dieser vier 'Erbmodi' von Generation zu Generation ergeben sich die erbstatistischen Unterschiede, die zu 'Disproportionierung' bei gleichem Generationsabstand und damit zu abgestuften bx-Werten führen." Aufgrund der Länge der Filiationslinie und der Ahnzahl der darin vorkommenden männlichen Ahnen (Fälle 2. und 3.) lassen sich die bx-Werte aller x-chromosomalen Ahnen berechnen (Richter 1990/91: 558). Vgl. in Richter und Meyer 1997 Abb. 16, S. 66; Abb. XII 1a-d, S. 88-89 und S. 126-131.  zurück 

 

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